Ein Moment, an den sich viele erinnern werden: Die englische Nationalmannschaft besiegt Schweden 2:0 im Viertelfinale der Fußballweltmeisterschaft 2018. Dele Alli, der den zweiten Treffer für Großbritannien erzielte und als einer der bestbezahltesten Mittelfeldspieler weltweit gehandelt wird, feiert den Einzug seiner Mannschaft ins Halbfinale mit einem Tanz der besonderen Art:
IT'S HAPPENING #ENG #WorldCup pic.twitter.com/e0rhlPWpRz
— Marcus Gilmer (@marcusgilmer) July 7, 2018
In der darauf folgenden Saison taten es viele Profis Alli gleich und machten eins klar: Unter den großen Fußballstars, die seit Jahrzehnten zu den wichtigsten Idolen der jungen Generation gehören, gibt es eine ganze Menge Fans von PC-Spielen.
GENERATION GAMER
Auch wenn die Eltern es vielleicht nicht immer klasse fanden: Viele Gamer der ersten Generation sind ihrem Hobby treu geblieben. Nach dem Abschluss ihrer Ausbildung und dem Einstieg ins Erwachsenenalter würden Sie schon damit aufhören und sich ernsthafteren Dingen widmen, hatte man vermutet. Weit gefehlt.
Und zugegebener Weise ist es ja auch nicht unbedingt viel sinnstiftender, wenn 22 Männer 90 Minuten lang einem Ball hinterherrennen, den sie nur mit dem Fuß berühren dürfen, wenn mit extrem schnellen Autos halsbrecherische Rennen gefahren werden, oder wenn zwei Gegner sich 9 Runden lang mit stumpfen Handschuhen bearbeiten, bis einer umfällt. Doch Fußball, Formel 1 oder Boxen sind alles andere als sinnlos: die Sportarten füllen riesige Arenen und locken tausende vor den Fernseher. Und wie man am Beispiel Allis sehen kann, sind analoge und digitale Sportarten vielleicht doch nicht so unvereinbar, wie man das immer gedacht hatte.
Inzwischen jedenfalls rückt die zweite Generation von Gamern nach. Die Anzahl der Spielenden ist so groß, dass Gaming und eSports in puncto Sponsoring und Endorsement angefangen haben, traditionellen Sportformaten Konkurrenz zu machen. Und das ist sozusagen über Nacht geschehen. Denn die Gamer blieben lange unter sich: In den Köpfen der meisten dominierte bis vor gar nicht allzu langer Zeit nämlich noch sehr das Bild der arbeitslosen Nerds, wenn sie an Computerspiele dachten. Keine attraktive Vorstellung. Und für die Marketingchefs unter uns: Wie sollte man an denen verdienen?
Hier kommt Twitch ins Spiel.
INTRODUCING: TWITCH.TV
Twitch.tv ist eine Online-Streaming-Plattform. Und nein, Twitch ist nicht wie Netflix oder Amazon Prime, es gibt da zwei entscheidende Unterschiede. Erstens: Twitch.tv ist live. Alles, was man hier sieht, geschieht in Echtzeit. Wie beim Fernsehen sucht man sich einen Kanal zum Zuschauen und lässt sich überraschen. Zweitens: Der gestreamte Content kommt mehrheitlich von privaten Nutzern. Twitch ist erstmal für jeden. Wer mit seinem Livestream stabile Besucherzahlen erzielt, kann eine Partnerschaft mit Twitch eingehen und darf auf seinem Kanal bezahlte Werbung schalten; an den Einnahmen aus dieser Werbung wird der Streamer oder die Streamerin dann mitbeteiligt.
Gegründet 2007 unter dem Namen justin.tv beschränkte sich das heute aus tausenden individueller Kanälen bestehende Twitch.tv zuerst nur auf einen einzigen Livestream. Für ein paar Monate trug Gründer Justin Kan rund um die Uhr eine Go-Pro-Kamera an seinem Kopf, was auch immer er sah, sah auch die Kamera. Und die übertrug es dann live ins Internet. Wer also Lust hatte, die Welt aus Kans Perspektive zu sehen, konnte das auf justin.tv tun und sich dabei mit anderen Zuschauern im Livechat unterhalten.
Weil das ganz gut ankam, begann justin.tv im Anschluss an Kans 24 Stunden Projekt seine Streaming Software auszubauen und für die private Nutzung zugänglich zu machen.
Alles, was man heute zur Erstellung eines Twitch Kanals braucht, ist ein registrierter Account, die Übertragungssoftware ist einfach verwendbar und kann kostenlos heruntergeladen werden. Ein funktionierender Livestream lässt sich in wenigen Minuten einrichten. Das kam dann sogar noch besser an. Das Startup justin.tv explodierte förmlich. 2014 rebrandete justin.tv in Twitch.tv, vormals der Name von justin.tvs Gamingsparte.
GAMING – DAS NEUE FERNSEHEN?
An dieser Stelle kommen die Gamer ins Spiel. Es gibt einen spezifischen Grund, warum die Onlinespiele justin.tv und seine Streamingdienste im Sturm eroberten. Denn Gamestreaming geht noch einfacher als normales Livestreaming: Wer wie Justin Kan sein Leben live streamen will, braucht dafür eine Kamera. Ist man etwas ambitionierter und denkt sich dazu ein Übertragungsformat, wie zum Beispiel eine Talkrunde aus, dann braucht man zusätzlich ein Produktionsteam. Dieses Problem hatten die Gamer nicht: Sie schalteten einfach eine Übertragung ihres Bildschirms ins Internet und voilà – plötzlich konnte man seinem Lieblingsyoutuber oder professionellen Spielern bequem von Zuhause beim „zocken“ zuschauen.
Leuten beim Gaming zugucken – das klingt erstmal etwas abstrus. Online-Spiele spielen, das ist an sich nachvollziehbar: Menschen spielen eben gerne Spiele, analog wie digital. Aber anderen dabei zuschauen? Wer würde so etwas tun?
Über Gaming muss man eins wissen: Computerspiele sind ein zeitaufwändiges Hobby, das eine Menge Commitment erfordert. Ein bisschen kann man sich das wie bei einem Leistungssport vorstellen. Nicht jeder hat die Zeit, ein Profi zu werden. Aber den Profis zugucken, das kann man über Twitch. Eigentlich ganz ähnlich wie bei Fußball oder Formel 1 oder Boxen.
DIE LIVESTREAMING-BRANCHE
Und das macht Twitch und die Gaming Branche für Werbetreibende so attraktiv: Eine junge Audience schaut im Internet etwas, dass sich mit digitalem Sportfernsehen vergleichen lässt. Im Mai 2018 hatte Twitch.tv täglich 15 Millionen aktive Nutzer. Dass sich mit so etwas Geld verdienen lässt, liegt auf der Hand. Zuerst kamen die Geldgeber hauptsächlich aus dem Elektronik- und Software Bereich. Doch inzwischen sind auch andere dazu gekommen: Größere Namen wie Mercedes schließen Sponsoring Deals mit den renommierten Ligen populärer Online-Spiele ab. Schalke 04 hat sein eigenes League of Legends Team und der Fernsehsender ProSieben ist dabei, eine komplette Gaming Sparte aufzubauen. Kurz gesagt: Das Geschäft brummt.
Wer gerne ein bisschen spekuliert hat vielleicht die Zeit, sich auf den folgenden Gedankengang einzulassen, ganz außerhalb des Gaming Bezugs: Als internetfähige Smartphones sich durchzusetzen begannen, feierte Facebook seinen großen Durchbruch. Als dann die Kameratechnik ein hochauflösendes Level erreichte, startete Instagram so richtig durch. Was also, wenn wir bald Smartphones mit nachhaltiger Streaming Funktion hätten. Würden soziale Netzwerke dann zunehmend Services für Liveübertragungen anbieten?
Facebook und YouTube scheinen sich mit dieser Frage bereits ausführlich beschäftigt zu haben. Auf der diesjährigen Facebook Konferenz F8 kündigte der Facebook Konzern an, sich vor allem auf dem Gebiet des Livestreamings weiterentwickeln zu wollen. Zu diesem Zweck versucht man, die Gamer direkt abzuholen: Um seinen eigenen Streaming Service zu promoten, erwarb Facebook offizielle Übertragungsrechte von eSports Turnieren, außerdem wird es auf Facebook bald ein gesondertes Gruppenformat für Gaming-Communitys geben. Seit einiger Zeit bietet auch die Videoplattform YouTube ihren eigenen Streaming Service an.
Trotz steigender Konkurrenz ist Twitch.tv auf den Gebieten Livestreaming und Gamestreaming weiterhin unangefochtener Marktführer. Wer also schon einmal den frischen Wind von dort schnuppern will, wo sich die Aufmerksamkeit der Generation Gaming gerade hinbewegen, der kann ja mal reinschauen.