Das ganze Leben in einer App – das Phänomen WeChat

Das ganze Leben in einer App – das Phänomen WeChat

Das ganze Leben in einer App – das Phänomen WeChat 6610 4407 Caspar Spinnen

Kommunikation – Shopping – Entertainment – Business, alles auf einer einzigen Plattform. Das klingt nach Science Fiction, ist ein solches Konzept überhaupt realisierbar? Facebook scheint sich dessen sicher zu sein und plant vermehrt in diese Richtung. In China hingegen zeigt die Super-App WeChat bereits wie es gehen kann. Ob sich das Konzept allerdings außerhalb Chinas etablieren wird, hängt nicht zuletzt vom verantwortungsvollen Umgang mit Nutzerdaten ab. Wir beleuchten heute die aktuellen Entwicklungen zum Thema Facebook x WeChat.

Auf der Facebook F8 Konferenz sprachen Mark Zuckerberg und sein Team über erste Schritte zur Zentralisierung ihrer digitalen Kommunikationsplattformen: Der Facebook Messenger soll in Zukunft plattformübergreifend Content aus Facebook, Instagram und WhatsApp anzeigen. In dieser Ankündigung lässt sich eine leichte Kursänderung des Facebook Konzerns im Umgang mit seinen Töchtern erkennen. Denn eigentlich war es seit dem Kauf von Instagram und WhatsApp Devise, dass die Programme unabhängig bleiben sollen.

Ein weiteres Thema der F8: Das bargeldlose Bezahlen via WhatsApp. Indem ein Dienst wie PayPal direkt mit der Messenger-App verknüpft würde, könnte theoretisch über analog-digitales Interfacing direkt bezahlt werden. Konkret ginge das zum Beispiel, indem die Smartphone-Kamera einen QR-Code scannt, um mit Händlern und Rechnungsstellern zu interagieren.

CHINA – VORREITER DER DIGITALISIERUNG

Alles in einer App, das klingt futuristisch. Außerdem stehen Nutzer und Verbraucherschutz Datenzentralisierung generell kritisch gegenüber. Eine App, die viele Funktionen vereint, ermöglicht enorme Möglichkeiten für die Erstellung digitaler Nutzerprofile. Und eigentlich steht die westliche Wirtschaft ja auch für Privatisierung und Wettbewerb. Warum also dieser Sinneswandel?

Die Rede ist hier bewusst von der westlichen Wirtschaft. Vor der Jahrtausendwende wäre das nicht notwendig gewesen. Man hätte einfach so über „die Wirtschaft“ schreiben können und es wäre klar gewesen, dass man damit die westliche meint.

Doch heute ist das anders. Im globalen Osten erleben wir den Aufstieg einer neuen Weltmacht. „Feng Shui“ – „Made in China“ – „Huawei“ – nach und nach erobert China westliche Märkte und erkämpft sich damit auch einen Platz in unseren Köpfen. Bisweilen lässt sich sogar eine gewisse Angst erkennen, von China überholt zu werden. Die aktuellen Handelsbeschränkungen und von einigen bereits als Handelskrieg titulierten Verhandlungen zwischen China und den USA gehen in diese Richtung.

WECHAT – DIE ALL-IN-ONE SUPER-APP

Und tatsächlich ist in puncto Digitalisierung die Befürchtung, abgehängt zu werden, nicht ganz unbegründet. Man mag das hierzulande kaum glauben, doch wer schon einmal in China war, kann dort digitale Innovationen bewundern, die es in sich haben. Waren Sie schon einmal in China?

Falls nicht, ist das auch nicht so schlimm. Denn wenn es um Digitalisierung geht, ist es einfach, der Sache einen Namen zu geben. Dieser Name lautet WeChat. Für diejenigen, die noch nicht davon gehört haben: WeChat ist, ganz simpel formuliert, die chinesische Version von WhatsApp, komplett mit benutzerfreundlichem Interface und grünem Icon.

Mit 1,1 Milliarden aktiven Account ist WeChat nach WhatsApp und der FB Messenger-App nicht nur die drittmeist genutzte App der Welt, demografische Betrachtungen zeigen auch, dass die Verwendung in China besonders hoch ist: dort hat quasi jeder WeChat. Außerhalb Chinas ist die Verwendung momentan noch eher spärlich, jedoch mit steigender Tendenz. Immer häufiger findet man die App auf den Smartphones derer, die Kontakt zu chinesischen Unternehmen suchen und versuchen, ihre eigene Marke im Fernen Osten zu positionieren.

Zum einen ist WeChat in China komplett konkurrenzlos. Facebook, Google, Instagram und WhatsApp werden vom „goldenen Schild“ der berühmten chinesischen Super-Firewall in der Volksrepublik geblockt. Es gibt für die Chinesen, also keine wirkliche Alternative. Zum anderen ist WeChat aber auch einfach sehr praktisch. Denn neben der prominenten Messenger-Funktion kann die chinesische App noch eine ganze Menge mehr.

WECHAT FEATURES

WeChat vs. Whatsapp – Messaging
Zunächst wäre da das Instant Messaging. Dazu gibt es nicht viel zu sagen, außer: Es lässt in seiner Simplizität und Benutzerfreundlichkeit an WhatsApp erinnern, steht seinem westlichen Pendant, also in nichts nach.

Einige kleine Unterschiede: In WeChat können Nachrichten bis zu 2 Minuten nach dem Senden widerrufen werden. Wenn eine Nachricht an den Partner aus Versehen beim Chef gelandet ist, lässt sich das korrigieren. Außerdem gibt es keine Häkchen wie bei WhatsApp. Zwar wird der User informiert, wenn seine Nachricht nicht verschickt werden konnte, dafür bleibt der Rest aber im Dunkeln.

WeChat vs. Paypal – Payment
Doch WeChat ist nicht nur eine Messenger App, sie hat noch eine ganze Bandbreite weiterer Funktionen. Eine davon ist das digitale Bezahlen. Und die ist alles andere als ein spekulatives Test-Feature: WeChat-Pay hat sich in den Jahren nach seiner Einführung schnell bewährt, schon 2016 zählte die App über 300 Millionen Nutzer. In chinesischen Großstädten ist WeChat gerade dabei, die altbewährte Bargeldzahlung restlos zu ersetzen.

Die bargeldlose Gesellschaft wird bei uns zu Lande häufig als eine Vision der Zukunft angeführt, doch die Umsetzung scheitert dann oft an Sicherheitsauflagen. In China hingegen hatte man anscheinend weniger Probleme, WeChat mit einer digitalen Zahlungs-App à la PayPal zu verbinden. Schnell und einfach geht das, eigentlich muss man nur seine Bankdaten in WeChat eintragen und eine persönliche PIN zur Autorisierung individueller Aufträge festlegen. Danach geht es ganz einfach weiter: Man scannt den QR-Code des Händlers, bei dem man einkaufen möchte und regelt den Rest der Transaktion komplett digital.

Das QR-Interfacing ist nützlich für Transaktionen mit Leuten, die man nicht auf der eigenen Freundesliste hat. Zwischen WeChat-Freunden Geld zu versenden, geht sogar noch direkter. Dafür gibt es eine kleine Funktion direkt bei den Smileys. Man gibt einfach die zu transferierende Summe ein und autorisiert das Ganze dann via Banking PIN – fertig.

WeChat vs. Facebook – Business Accounts
Sie sind ein internationales Unternehmen, dass nach Strategien sucht, um seine Marke in China zu etablieren? Es braucht keinen speziellen Profi für digitales Marketing um herauszufinden, was der erste Schritt einer solchen Strategie sein sollte: Sie fangen erstmal an, indem sie einen Business Account bei WeChat erstellen.

Die WeChat Business Accounts haben sich in China durch ihre Simplizität bewährt, sie sind nicht einmal gesondert von den anderen Kontakten des Users getrennt. Der Unterschied ist, dass die Freundschaftsanfrage immer automatisch angenommen wird und dass es im Chatfenster einen speziellen Tab für Ankündigungen und Deals der jeweiligen Firma gibt.

Diese erscheinen beim User dann mit derselben Notifikation wie eine neue Chat-Nachricht. WeChat-Marketingkampagnen zielen oft auf User Engagement ab und haben internationalen Unternehmen wie McDonalds, Nike und Louis Vuitton geholfen, in China Fuß zu fassen.

WeChat vs. Instagram – Moments
Messaging, bargeldlose Bezahlung, Business Accounts. Damit vereint WeChat bereits eine Menge dessen, was hierzulande unterschiedliche Anbieter sozialer Netzwerke und anderer Onlinedienste leisten. Fehlt eigentlich nur noch ein zum Bildupload optimierter Newsfeed. Na klar, den gibt es auch. Zwar hat WeChat keine Storyfunktion, so wie Instagram oder Snapchat, um Snapshots zu veröffentlichen. Dafür gibt es aber einen Newsfeed für Bild- und Textcontent.

…und noch viel mehr
Wir wollen niemanden langweilen, die restlichen Feature der All-in-One App WeChat also in ein paar fixen Stichworten:

  • Dating
  • Smartphone Games
  • Karten und Lokalisierungsservice à la Google Maps
  • Live Video
  • Bestellservice für Didi, das chinesische Uber
  • Bestellservice für die chinesischen Äquivalente zu Lieferando und Lieferheld

SOCIAL MEDIA MARKETING TOMORROW – WAS KÖNNEN WIR VON WECHAT LERNEN?

Wenn Sie neu in China sind, zum Beispiel als ein junges Unternehmen, das im asiatischen Raum neue Märkte erschließen will, dann ist aller Anfang nicht schwer, sondern einfach: Machen Sie sich mit WeChat vertraut oder suchen Sie sich einen Partner, mit dem Sie zusammen überlegen, wie Sie ihr Unternehmen beziehungsweise ihr Produkt am besten in den chinesischen sozialen Medien positionieren können.

Einen entscheidenden Nachteil hat WeChat allerdings. Der geneigte Leser wundert sich an diesem Punkt sicherlich bereits, wo in einem Artikel über China denn nun endlich die Datenschutzfrage angesprochen wird.

Natürlich soll die nicht außen vorbleiben und sie ist auch nicht besonders schwer zu beantworten: In China sind die Auflagen zum Datenschutz um ein vielfaches weniger strikt als in Mitteleuropa oder Nordamerika. Außerdem arbeitet Tencent, das Unternehmen hinter WeChat, mit der Regierung der Volksrepublik China zusammen. Und ja, alle Nutzerdaten können eingesehen werden.

Auch wenn dem jetzt nicht so wäre, die Zentralisierung von digitalen Systemen und sozialen Netzwerken führt fast ganz automatisch zu transparenteren Endnutzern. Denn wenn alles über eine App geregelt wird, muss man nur noch die beobachten und bekommt gleichzeitig besonders detaillierte Nutzerprofile. Würde man es in China mit dem Datenschutz nicht so locker nehmen, dann wäre das Phänomen WeChat überhaupt nicht denkbar.

Aber denkbar ist es trotzdem. Und WeChat funktioniert großartig, als digitaler Wegbegleiter für die gigantischen Metropolen Chinas ist es nahezu unverzichtbar. Wer die App einmal genutzt hat, wird sie vermissen, wenn er oder sie China verlässt.

Zentralisierte Apps wie WeChat machen das Leben leichter, für Privatpersonen und Unternehmen gleichermaßen. Wie sich das Ausmaß an Lebensqualität, das WeChat schafft, mit den westlichen Vorstellungen von Privatsphäre und Datenschutz vereinbaren lässt, das ist eine der großen Zukunftsfragen unserer heimischen sozialen Netzwerke.

Bald wird es zunächst einmal den neuen Facebook Messenger Tab geben, der zwischen WhatsApp, Facebook und Instagram plattformübergreifend Content ausgewählter Freunde anzeigen kann. Das ließe sich vielleicht als ein vorsichtiger Schritt Richtung All-in-One Super-App interpretieren. Am Horizont erwarten uns dann noch weitere Features wie Facebook Payment und die Einführung einer hauseigenen Kryptowährung des Facebook Konzerns.

Eine All-in-One Super-App wie WeChat, die Anwendungen für alle Facetten des privaten und öffentlichen Lebens in sich vereint, wird hierzulande vorerst schwer realisierbar bleiben. In Deutschland zum Beispiel würde die aktuelle Gesetzeslage vielen WeChat Features strikt im Weg stehen.